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Leseprobe: "Das Partyschiff" von Stefanie Willers

Leseprobe: "Das Partyschiff" von Stefanie Willers

 

"Das Partyschiff"

von Stefanie Willers

 

 

 

 

 

ISBN 978-3-948464-07-3

INHALT
1. Frühling
2. Christine
3. Die Frühjahrsparty
4. Entkommen
5. Der Alte
6. Die Zeugen
7. Glühwein oder so etwas
8. Abhängig
9. Der Rummelplatz
10. Der schwarze Engel
11. Der Club
12. Korruption
13. Annäherung
14. Wie alles begann
15. Die Entscheidung
16. Verliebt
17. Glück und Unglück
18. Unter Vertrag
19. Die Western Lodge
20. Züchtigung
21. Eskalation
22. Skandal
23. Streit
24. Umbruch
25. Der Mord
26. Umbau
27. Die Flucht
28. Die Weihnachtsfeier
29. Prozess
30. Antrag

1. Frühling

 

Frühling! Wie liebte Henk van Mechelen diese Zeit! Endlich waren wieder Möpse und Ärsche zu sehen. Hinweg mit der dicken Winterkleidung, her mit den eng anliegenden Jeans, den freiherzigen Blusen und frechen Miniröcken.

Der Anblick der zahlreichen Hausboote in den Amsterdamer Grachten, auf denen es in unzähligen Blumenkästen gerade anfing zu blühen und zu grünen, war für die Touristen. Henk interessierten nur die Frauen. Wann immer er auf seinen Spaziergängen wie dem heute steife Nippel sah, die sich durch den dünnen Stoff der luftigen Blusen deutlich abzeichneten, stellte er sich vor, wie die Frühlingsgeilheit die Frauen willig machte. Er malte sich aus, wie sie gefügig taten, was und wie er es wollte. Und augenblicklich kamen auch in seiner Hose die Frühlingsgefühle hoch.

Auch in dieser Saison, 1994, die mit einem wunderbar sonnigen April begann, entdeckten seine Augen wieder ein lohnenswertes Ziel. Entschlossen überquerte Henk die schmale Straße. Eine der Damen, die er dort auf der anderen Seite sah, kannte er, den süßen Engel daneben aber nicht – noch nicht. Schwungvoll setzte er sich auf einen freien Stuhl zu den beiden jungen Frauen an den Bistro-Tisch, der wie die anderen des kleinen Cafés im Licht der warmen Frühlingssonne stand.

»Hallo ihr Schönen! Habt ihr Lust auf eine Party?«, fragte er ohne Umschweife und charmant lächelnd in die Runde.

»Hi Henk«, begrüßte ihn Birgit im Gegenzug auf Deutsch und strich sich eine Strähne ihrer langen, tiefschwarz gefärbten Haare aus dem schmalen Gesicht. Henk hatte den Eindruck, dass sie gleichzeitig erfreut war, ihn wiederzusehen, und doch sehr reserviert wirkte. Letztes Jahr war sie den Sommer über seine Geliebte gewesen und hatte als Gelegenheitsstripperin in seinem Club gearbeitet, bis sie im Herbst wieder zurück in ihre Heimatstadt gefahren war. Wie bei dem ersten Treffen letztes Jahr trug sie einen kurzen, schwarzen Sommer-Minirock, der kaum das Höschen bedeckte, und eine tief ausgeschnittene, sommerlich-bunte Bluse, die ihre großen strammen Brüste gut zur Geltung brachte. Aber diese hatte er schon in der Hand gehabt und Birgit einige Monate im Bett. Jetzt war sie für ihn nichts Neues mehr. Doch mit ihr am Tisch saß eine junge Frau mit schulterlangem, blondem Haar. Dass Birgit ihm auf Deutsch geantwortet hatte, nahm er als Hinweis, dass ihre attraktive Begleiterin ebenfalls Deutsche war.

»Wer ist denn deine Freundin?«, fragte er Birgit, jetzt auch in ihrer Sprache, und lächelte gleich darauf die unbekannte Schönheit an. Ihm gefiel die Stupsnase und wie darum herum ein paar Sommersprossen ihr herzförmiges Gesicht verzierten. Niedlich! So jung und wundervoll unverbraucht.

»Das ist Tina. Wir sind beide gerade in Amsterdam angekommen«, stellte Birgit ihre Begleiterin vor. Gleich darauf meinte sie: »Tina, das ist Henk van Mechelen. Ich hatte dir von ihm erzählt.«

»Hi Tina. Nenn mich einfach Henk. Es freut mich, dich kennenzulernen.«

Die junge Frau faszinierte ihn auf Anhieb. Klar, die schlanken Beine, die eng sitzenden Hotpants und das helle Tanktop, das den Bauchnabel frei ließ und sich an die kleinen Brüste schmiegte, brachten seinen Schwanz dazu, begierig zu zucken. Aber da war mehr. Sie unterschied sich von den anderen Ausreißerinnen, die hier in der Stadt ankamen und dann als Bistrobedienung, Stripperin wie Birgit oder Straßennutte endeten. Die hier war definitiv anders. Ihre Augen strahlten, aber gleichzeitig schien sie die Welt nicht wirklich zu sehen. Es bedurfte sicherlich mehr als die übliche Verführungskunst, um sie zu erobern und ins Bett zu bekommen. Eine verlockende Herausforderung, die Henk sogleich in Angriff nahm! Er berührte ihre Hand und führte sie in einer übertriebenen Geste für einen gehauchten Handkuss an seine Lippen. Ein zarter Duft stieg ihm in die Nase. Aufregend und verheißungsvoll. Henk räusperte sich. Voller Vorfreude ließ ihn dieser Duft an eine tropfnasse Möse und weit gespreizte Schenkel denken.

»Hey, willst du sie ewig festhalten?«, unterbrach Birgit seinen Tagtraum in einem genervten Tonfall. Sie ahnte wohl, dass sie neben ihrer Freundin bei ihm keine Chance hatte und dieses Jahr einen anderen Geldgeber finden musste.

Tina schien es dagegen zu gefallen, wie Henk ihre Hand hielt. Sie machte keinerlei Anstalten, sich ihm zu entziehen. Im Gegenteil: Ihre schmalen, aber sehr sinnlichen Lippen formten sich zu einem verzagten Lächeln, wobei sich kleine Grübchen bildeten. In den Augen von Henk machte die zarte Röte auf den Wangen sie nur noch begehrenswerter. Er strich einmal sanft mit dem Daumen über Tinas schmale Finger und ließ dann mit großem Bedauern ihre Hand wieder los.

»Woher kommst du?«, fragte er Tina.

Statt ihrer antwortete Birgit, die anscheinend eifersüchtig geworden war, und die Aufmerksamkeit wieder auf sich ziehen wollte. »Aus einer kleinen Stadt im Nordwesten. Wir haben uns in der Bahn kennengelernt. Sie ist zugestiegen und der Platz neben mir war der einzig freie im Großraumwagen. Ich fragte sie, wohin sie wolle, und so kamen wir ins Gespräch. Ich habe ihr davon erzählt, wie hier in Amsterdam Freiheit gelebt wird und dass es immer Möglichkeiten für Jobs gibt.«

Tina nickte einmal und blieb ansonsten sehr zurückhaltend. Die Mischung aus sexy, offenherziger Kleidung und ihrem schon fast schüchternen Verhalten reizte Henk aufs Blut. Die Vorstellung, ihre angenehme, helle Stimme einen Lustschrei ausstoßen zu hören, schickte eine Hitzewelle in seinen Unterleib. Er überlegte kurz, welche seiner Methoden er am besten anwenden sollte, und betrachtete Tina aufmerksam. Sie war auf jeden Fall eine überaus niedliche Beute. Tina soll es für diesen Sommer sein, versprach er sich in Gedanken.

Die Art, wie Tina immer wieder sehnsüchtig zum Nachbartisch hinübersah, an dem ein älteres Ehepaar sich sein üppiges Frühstück schmecken ließ, kannte Henk.

»Die frische Luft macht mich immer ganz hungrig. Euch auch?« Ohne eine Antwort abzuwarten, bestellte er drei Frühstücksgedecke, die prompt geliefert wurden.

Tina stürzte sich förmlich auf das Essen und auch Birgit langte kräftig zu. Henk nahm sich die Zeit, die beiden miteinander zu vergleichen. Während Birgit Mitte zwanzig war, schien Tina ihm um einige Jahre jünger. Sie musste aber schon volljährig sein, denn sonst wäre sie nicht auf der Fahrt von Deutschland nach Amsterdam durch die Grenzkontrolle gekommen. Die Kontrollen waren derzeit rigoros. Schon einmal ein Pluspunkt, dass sie volljährig war. Denn Henk wollte keine Minderjährige vögeln. Das machte nur Ärger. Wo Birgit dralle Formen aufwies, war Tina schlank und rank. Die beiden waren verschieden und doch ähnelten sie sich seiner Meinung nach in dem Hunger nach Leben. Und für ihn schloss dies das Verlangen nach Sex mit ein.

»Habt ihr beiden Lust, heute Abend zur Party auf mein Schiff zu kommen?«, wiederholte Henk sein Angebot. »Die Drinks gehen für zwei so hübsche Meisjes wie euch natürlich aufs Haus«, zwinkerte er den beiden Mädchen zu.

»Wo genau ist die Party?«, fragte Tina zwischen zwei großen Bissen.

»Auf der ›Petite Péniche‹, meinem schwimmenden Night­club. Es ist ein umgebautes Binnenschiff aus dem Beginn des vorherigen Jahrhunderts.«

Birgit verdrehte die Augen, was ihm zeigte, dass er ins Labern geriet. Wie immer, wenn er über seinen Stolz, den 38 Meter langen und fünf Meter breiten ehemaligen Frachtkahn der Freycinet-Klasse aus Frankreich, zu sprechen kam. Sie wusste auch, dass er seinen Lustmolch in der Hose hin und wieder »Péniche« nannte, aber niemals hätte er seinen »Frachtkahn« »petite« im Sinne von »klein« genannt. Henk war stolz auf seine 1,83 Meter, seine dunkelblauen Augen und seinen kräftigen Körper. Die dunkelblonden Haare ließ er regelmäßig von einem Profi mittellang frisieren und er war stets sauber rasiert und gut gekleidet.

»Ich feiere mit einigen Freunden den Beginn der neuen Touristensaison. Das mache ich jedes Jahr am Wochenende nach Ostern. Und zu dieser Party haben nur ausgewählte VIPs Zutritt.« Nun, ein wenig zu meinen Gunsten zu übertreiben, ist erlaubt, dachte er mit einem innerlichen Schmunzeln.

Birgit setzte hinzu: »Henk kennt wirklich eine Menge Leute. Letztes Jahr waren bekannte Persönlichkeiten der Politik und Wirtschaft unter den Gästen.« An Henk gewandt fragte sie: »Sind die wieder dabei?«

Henk verstand die Frage hinter der Frage. Birgit hatte nicht nur als Stripperin gejobbt. Letztes Jahr hatte sie auf der Party für gutes Geld die Beine breitgemacht und sich von drei VIPs vögeln lassen. Henk wusste das, denn er hatte alles auf Videoband aufgezeichnet.

»Ja, die drei, an die du jetzt denkst, sind wie jedes Jahr dabei. Aber ich konnte die Gästeliste noch exquisiter und mondäner gestalten. Es wird sicher wieder viel … Spaß geben«, meinte er mit einem anzüglichen Grinsen.

»So eine Gelegenheit kann ich mir nicht entgehen lassen. Ich werde auf jeden Fall kommen«, beschloss Birgit. Gleich darauf erhob sie sich. »Vorher werde ich bei ein paar Bekannten vorsprechen, muss ja irgendwie an Knete rankommen.«

»Den einen oder anderen Auftritt kannst du gerne bei mir im Club haben«, versprach Henk ihr.

Birgit lächelte und meinte dann in einem fragenden Tonfall: »Tina und ich haben in der Pension, zu der das Café hier gehört, für die erste Nacht ein Gästezimmer gemietet. Wir würden gerne bleiben, das Zimmer ist nett und für jemanden wie dich sicher günstig zu nennen …« Sie ließ die unausgesprochene Frage im Raum stehen.

Henk winkte lässig ab. »Kein Problem, das übernehme ich.« Er würde Birgits Anteil später von ihrer Gage abziehen.

Birgit verabschiedete sich mit Küsschen auf die Wange von ihm. Dann nickte sie Tina zu und machte sich auf den Weg, sich einen Job zu suchen.

Tina warf ihm einen überraschten Blick zu. »Dann kann ich noch eine Nacht hierbleiben?«

»Sicher, und auch ein paar mehr, wenn wir uns heute Abend auf der Party sehen.« Solche Einkäufe waren Henk die liebsten.

Tina lachte. »Mit Birgit zusammen komme ich gerne. Erklärst du mir den Weg zu diesem Clubschiff?«

»Natürlich. Es ist ganz in der Nähe, nur die Gracht entlang. Man könnte es von hier aus sogar sehen, wenn der Kanal keinen Bogen machen würde. Wenn du magst, können wir einen kleinen Spaziergang dorthin machen.«

»Klasse!«

Als Tina aufstand, war Henk überrascht, wie klein sie war. Er überragte sie um einen ganzen Kopf. Perfekt.

Henk ging an die Rezeption des kleinen Hotels und bat die Dame hinter dem Tresen, ihm die Rechnung für das Frühstück sowie die Zimmerrechnung später zuzuschicken. Die beiden Mädchen sollten bleiben können, solange sie wollten. Die Dame nickte und notierte sich das Nötige. Tina hatte draußen gewartet und schaute ihm entgegen, als er wieder ins Freie trat. Henk lächelte ihr entgegen und bedeutete ihr, ihn zu begleiten.

Mit ihren Turnschuhen hatte Tina keine Mühe, auf den schmalen, mit Kopfsteinen gepflasterten Straßen entlang der Grachten mit ihm Schritt zu halten. Eigentlich war es mehr ein freudiges Hüpfen. Sie genoss offensichtlich die Sonnenstrahlen auf ihrer Haut und ihre Freiheit, während Henk sich an ihren nackten Beinen und dem Spiel der Muskeln ihrer straffen Oberschenkel erfreute. Doch nicht nur die Äußerlichkeiten reizten Henk, sondern auch Tinas Wesen faszinierte ihn. Sie war auf eine ganz natürliche Art neugierig, frech und fröhlich. Ihre Unbeschwertheit tat Henk gut. Ihr Lachen munterte ihn auf. Es war da aber auch noch etwas, was er nicht in Worte fassen konnte. Eine nie dagewesene Vorsicht ermahnte ihn, es mit Tina langsam angehen zu lassen. Er wollte sie mit einer Art Verlangen, die ihm eigentlich fremd war.

»Ich bin das erste Mal in Holland«, meinte Tina, fast entschuldigend dafür, dass sie sich interessiert umsah. Das Flair der Innenstadt schien sie zu begeistern. Immer wieder blieb sie stehen, betrachtete die bunten Fassaden mit den farbigen Akzenten um die Fensterrahmen, sah die zwei- und dreigeschossigen Häuser empor und entdeckte Details, mit denen die Besitzer ihre jahrhundertealten Häuser geschmückt hatten. Kleine Geschäfte, Boutiquen und Cafés luden die Touristen zum Verweilen ein. Tina sah neugierig in fast jedes Schaufenster.

Nach etwa zweihundert Metern näherten sie sich der Stelle, an der das Clubschiff lag. Ihr Weg führte zu einer schmalen Brücke über die Gracht. Auch hier, wie bei den Hausbooten, schmückten Blumenkästen die gusseisernen Geländer. Als Tina auf der Mitte der Brücke stehen blieb, sich an das Geländer lehnte und sich umsah, wanderte Henks Aufmerksamkeit zu ihrem knackigen Hinterteil in den engen Hotpants. Er spürte Verlangen. Die untere Stange des Geländers hatte, wie er aus Erfahrung wusste, genau die richtige Höhe, damit eine Frau sich dran festhalten und er sie von hinten nehmen konnte. Doch Henk verdrängte den Gedanken und wies mit der Hand auf sein Schiff, auf das man von der Brücke aus einen guten Blick hatte.

»Voilà, da ist sie, meine ›Petite Péniche‹. Auf ihr findet heute die Party für den Saisonbeginn statt. Den Sommer über ist das Schiff eine Cocktailbar. An Wochenenden finden auch besondere Events statt.«

Seine Augen wanderten stolz über das Schiff. Achtern befanden sich das niedrige Steuerhaus und daran anschließend Richtung Heck ein gedrungener Aufbau, der früher der Wohnbereich der Binnenschiffer gewesen war. Vom Steuerhaus nach vorne zum Bug lagen die ehemaligen Frachträume. Die Luken dazu waren verschlossen und verstärkt, sodass oben drauf eine durchgehende freie Fläche für Tische und Stühle zur Verfügung stand. Während der fast zwei Meter hoch aus dem Wasser ragende Rumpf im traditionellen Schwarz gestrichen war, strahlten die niedrigen Aufbauten in Rot mit goldenen Verzierungen um die Fenster.

Henk lenkte Tinas Aufmerksamkeit auf das andere Ufer. »Der Nightclub da vorne …« Er zeigte auf ein am gegenüberliegenden Ufer stehendes nachtblaues Gebäude. Der Name »Sangreal« stand in weißen Buchstaben auf einer dunkelroten Markise über dem Eingang »… gehört auch mir. Ab vierzehn Uhr ist der Loungebereich geöffnet. Wir servieren dort Cocktails und kleine Speisen. Perfekt zum Abhängen und Entspannen. Wer ausgiebig Tanzen möchte, findet am Abend ab zweiundzwanzig Uhr in der Kellerdisco seinen Platz.«

Wie jedes Mal, wenn Henk von der Brücke blickte, ärgerte er sich immer noch, keinen Liegeplatz am anderen Ufer, direkt vor dem »Sangreal«, bekommen zu haben. Wie bequem wäre es für die Gäste, einfach nur über die Straße zu gehen, anstatt den Umweg über die Brücke zu machen. Zu seinem Leidwesen stellte sich jedoch dieser Lahmarsch von Bürokrat in der Stadtverwaltung quer. Aber nicht mehr lange! Henk wusste, dass man mit Geld viele Menschen gefügig machen konnte. Und wenn nicht mit Geld, dann mit Erpressung.

Tina wippte mit dem Fuß, anscheinend schon ganz in Gedanken bei der Party.

»Was soll ich heute Abend anziehen?«, fragte sie unvermittelt und unterbrach Henk in seinen Gedanken. Ihre Augen leuchteten wie Sterne. »Ich kann doch nicht in diesen Sachen kommen, oder?«

»Ein enges Cocktailkleid wäre passend«, sprach Henk seine Vorstellung aus und schaute sie fasziniert an.

Plötzlich wurde Tinas Gesichtsausdruck ganz traurig. Sie senkte den Kopf und ihm wurde sofort klar, dass sie ausdrücken wollte, sich eine schicke Garderobe nicht leisten zu können.

Henk versuchte sich vorzustellen, wie Tina in einem engen Kleid aussehen würde. Ja, das war die Investition wert. Er legte ihr den Zeigefinger unter das Kinn und hob ihren Kopf. »Lass Henk das mal machen«, tröstete er sie. Aus einem Impuls heraus streichelte er mit dem Daumen über ihre Lippen. Für einen Moment blieb sie ganz still und ließ die Berührung geschehen.

Henk nahm die Hand weg und Tinas Augen strahlten. Mit dem Kopf deutete er zu einer Boutique in der Nähe.

»Komm, den Laden kenne ich. Da finden wir sicher etwas Hübsches für dich. Und dann kannst du in diese Boutique kommen, so oft du willst. Daddy zahlt«, sagte er mit schiefem Grinsen.

Begeistert rief sie: »Boah. Echt? Das ist ja klasse! Danke!« Sie umarmte ihn, gab ihm ein Küsschen auf die Wange und stürmte auf das Geschäft zu.

Henk schaute ihr fasziniert hinterher. Die kleine Glocke an der Ladentür klingelte leise, als er Tina folgte und eintrat. Die dunkelhäutige Verkäuferin begrüßte sie mit einem strahlenden Lächeln. Lieke war mit ihren eins achtzig fast so groß wie Henk. Die eng anliegende Jeans betonte ihre extrem langen, schlanken Beine. Sie kannte seinen Geschmack, sowohl was Kleidung bei Frauen betraf als auch sonst in anderen Belangen, und half Tina bei der Auswahl.

Während die beiden miteinander redeten, blickte Henk in einen der großen Spiegel. Die regelmäßigen Besuche im Fitnessstudio, wo er neben dem Krafttraining auch Kampfsport betrieb, zahlten sich aus. Den flachen Bauch mit Sixpack und den festen Hintern, den die Frauen so liebten, wollte er sich erhalten. Auch sonst sah man ihm seine 34 Jahre nicht an. Unternehmungslustig reckte Henk seinem Spiegelbild den glattrasierten, kräftige Kiefer entgegen. Birgit hatte einmal gemeint, seine dunkelblauen Augen würden dem ihrer Meinung nach kantigen Gesichtsschnitt eine liebenswerte Wärme verleihen. Henk sah sein Gesicht als ausdrucksstark statt hart an, doch bei den Augen gab er ihr recht.

»Hallo Henk! Dein Seidenhemd gefällt mir«, riss Lieke ihn aus der Selbstbetrachtung. Sie kam mit einem eleganten Hüftschwung auf ihn zu, als Tina mit ein paar Oberteilen in der Umkleide verschwand. »Hellblau steht dir«, meinte sie und strich mit einem Finger über seine Brust. »Sehe ich dich nachher oder bist du beschäftigt?« Sie deutete kurz mit dem Kopf in Richtung der Umkleidekabine, in der Tina gerade verschwunden war.

»Mal sehen, wie weit ich bei ihr komme. Sie ist ganz frisch in der Stadt.«

»Pft. Ich verstehe nicht, was du an diesen jungen Hühnern findest. Vermisst du nicht unsere gemeinsamen Stunden?« Unverfroren fasste sie Henk in den Schritt.

Dieser genoss ihren Griff und lächelte sie an. »Du wirst ganz schön frech. Ich glaube, ich muss dir wieder einmal zeigen, wie sich eine Dame benimmt.«

Sie grinste anzüglich. »Versuch es doch. Wir werden dann ja sehen, ob du noch so gut darin bist, mich zu bändigen und zufriedenzustellen.«

Plötzlich trat Lieke wieder einen Schritt zurück und setzte ihre Verkäuferin-Miene auf. Sie musste es geahnt haben, denn nur Augenblicke später hörte Henk den Vorhang rascheln und Tina trat aus der Umkleidekabine. Er wäre beinahe gekommen, so sexy sah sie aus.

»Ist das okay?«, fragte sie und drehte sich einmal um die eigene Achse.

Okay war völlig ungenügend für diesen Anblick. Begriffe wie »umwerfend« oder »fantastisch« waren angebracht, dachte Henk. Es kostete ihn eine gehörige Anstrengung, nicht gleich hier in aller Öffentlichkeit über sie herzufallen. Das rote Poloshirt schmiegte sich wie eine zweite Haut an ihren Körper, betonte mehr ihre kleinen festen Brüste mit den kirschkerngroßen Brustwarzen, als dass der Stoff sie verbarg. Sie war für ihn das geilste Wesen auf der ganzen Welt. Sein Mund war staubtrocken und in seiner Hose pochte es so hart, dass es schmerzhaft wurde.

Ein innerliches Heulen wie von einem Wolf tönte kurz in Henks Kopf. Henk kannte das. Eine animalische Stimme, die ihn seit seiner frühesten Kindheit begleitete und sich von Zeit zu Zeit meldete. Ein innerer Wolf, immer bereit, um sein Revier zu kämpfen, und immer auf der Lauer, wenn es um Beute ging, insbesondere was Frauen anbelangte. Dieser Wolf wollte Tina ganz, er wollte sie besitzen, am liebsten auf immer einsperren und so oft nehmen, wie es ihm passte. Sie sollte mit Haut und Haaren ihm alleine gehören.

Henk verdrängte diese Gedanken in seinen Hinterkopf. Sonst legte er sich nie auf eine Frau fest. Abwechslung war seine Devise. Warum wollte er diese nun alleine und für länger? Er schüttelte den Kopf und sah Tina prüfend an. Dann sagte er: »Absolut umwerfend.«

Tina warf ihm eine Kusshand zu und ging wieder in die Umkleide, diesmal mit mehreren Abendkleidern. Lieke grinste Henk an. Offensichtlich freute sie sich schon auf den Moment, wenn er seine Kreditkarte zücken musste.

 

Mit zwei vollgepackten Einkaufstaschen ging es zwei Stunden später wieder zurück zur Pension, wo sich die Mädchen ein Zimmer teilten. Henk überlegte, mit Tina hochzugehen, als ihn jemand bei seinem Namen rief. Er erkannte Cindy, eine Angestellte aus seinem Club, und stoppte sofort. Sie sagte, sie habe schon nach ihm gesucht und er solle umgehend seinen Geschäftspartner anrufen. Es sei wirklich dringend. Henk verabschiedete sich notgedrungen von Tina und ging zur Rezeption des kleinen Hotels. Dort bat er um das Telefon und wählte die Nummer, die er auswendig kannte.

Sein Geschäftspartner Pedro Alvarez-Garcia fragte wütend, wo er denn bleiben würde. Für den Abend und die Party war noch einiges zu erledigen. Bedauernd unterließ Henk es, an Tina zu denken. Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, fluchte er unterdrückt. Hätte Cindy ihn nicht eine halbe Stunde später finden können?

 

2. Christine

 

Christine Fabor streckte sich. Die Sonnenstrahlen des frühen Morgens hatten sie geweckt. Oder war es der Duft von frisch gemahlenem Café gewesen, der aus der Küche kam? Augenblicklich wusste sie, dass Sergio bereits früh aufgestanden war und die Zwillinge versorgt hatte. Sue und Emma waren gerade sechs Monate alt und wachten morgens sehr früh auf. Oft übernahm er die erste Schicht. Ihr Lebensgefährte konnte als Manager nicht nur seinem Job in einem großen Hotel nachgehen, sondern organisierte auch seine kleine Familie mit Bravour. Und Christine liebte ihn dafür. Gerade als sie an ihn dachte, betrat er das Zimmer. So kräftig gebaut und mit diesen schönen Augen sah er zum Anbeißen aus, befand Christine. Er sah sie liebevoll an und kam auf das Bett zu, in dem sich Christine sofort spaßeshalber unter der großen Decke versteckte. Das Spiel aufnehmend, kroch Sergio von der anderen Seite unter die Bettdecke.

»Happy Birthday«, sagte sie liebevoll. Es war Samstag und zudem war heute sein Geburtstag. Die zweiundvierzig Jahre sah man ihm jedoch keineswegs an. Auch wenn die Lachfältchen um die Augen tiefer geworden waren, sein jugendlicher Geist voller Lebensfreude faszinierte Christine noch immer.

»Wo bist du?«, scherzte Sergio und griff nach ihr. »Zuerst frühstücken wir fürstlich! Und dann machen wir einen schönen Ausflug und heute Abend gehen wir essen! Ich habe schon den Babysitter organisiert und den Tisch reserviert.«

Christine lächelte. Hätte sie das alles nicht tun sollen? Aber er hatte sie ausschlafen lassen. Sein Organisationstalent war unschlagbar. Mittlerweile waren beide wieder unter der Decke hervorgekommen und küssten sich innig. Er strich ihr die dunklen Haare aus dem Gesicht, die sie halblang trug. Seine Hände massierten sie lange, während sie seine schöne Statur streichelnd bewunderte. Christine selber war immer noch schlank, wenn auch am Bauch die Geburt der Zwillinge deutlich zu sehen war. Auch ihre Brüste waren größer geworden und nicht mehr so fest wie früher. Der normal Lauf der Zeit, dachte Christine, die wusste, dass Sergio sie so mochte, wie sie eben war. Sie wusste, dass er sie seit ihrer ersten Begegnung gemocht hatte. Es hatte etwas gedauert, bis sie das begriffen hatte. Bis sie gewusst hatte, was Liebe überhaupt ist. In seine schönen Augen konnte sie ewig schauen. Seine Hände wirkten stets beruhigend und Christine streckte sich wohlig und atmete von Zeit zu Zeit zufrieden tief ein und aus. Als er an ihrem Becken und dann an ihrem Intimbereich angekommen war, hielt sie zwischendurch schon einmal die Luft an. Sergio war gut in dem, was er tat. Er war nie zu hastig oder zu langsam. Ausgiebig strich er über die Innenseite ihrer Oberschenkel und versenkte dann zwei Finger in sie. Sie war feucht. Doch dann legte er beide Hände rechts und links neben ihr Becken, beugte sich zu ihr herunter und reizte mit seiner Zunge ihren Kitzler. Wenn er seine Zunge am oberen Bereich spielen ließ und sie mit den Fingern befriedigte, war Christine schon oft gekommen. Doch morgens, so wusste Sergio, mochte sie die ganz normale Variante. Also versenkte er seinen Penis in ihre Vagina und bewegte sich erst langsam und dann immer schneller, bis sie gemeinsam kamen.

Als er sich zurückzog, lagen sie noch eine Weile nebenein­ander und genossen das Beisammensein. Sie kannten einander nun schon fast sieben Jahre und seit fünf Jahren wohnten sie zusammen. Nachdem die Zwillinge geboren worden waren, währte die Ruhe nie lange; immer hatten die Zwillinge auch etwas dazu zu sagen, wie viel Zeit ihnen für andere Dinge blieb. Und so war es auch an diesem Morgen. Aber dennoch genossen die beiden das Leben hier in Südfrankreich in vollen Zügen. Sie wussten ja beide, wie kostbar es war.

Christine stand schnell auf, zog sich den Bademantel über und eilte zu den beiden Kleinen, die erst einmal eine dreiviertel Stunde zu versorgen waren. In dieser Zeit hatte Sergio geduscht, sich edel in eine neue Jeans und ein helles, kurzärmeliges Seidenhemd gekleidet und den Tisch fertig gedeckt. Christine gönnte sich ebenfalls eine Dusche, bürstete die dunklen Haare und zog ein weinrotes Sommerkleid an. Beide nahmen sich am Frühstückstisch erst einmal Zeit, gemütlich Kaffee zu trinken.

 

Sergio hatte sich angewöhnt, immer die Post zu sammeln und samstags zu öffnen. Was für ihn war, legte er in einen Korb, die Post für sie gab er ihr gleich und die gemeinsame Post las er beim Frühstück vor und sie sprachen darüber. Ob das eine Rechnung war, die dann in seinen Korb ging oder ihr gereicht wurde, oder ein Schreiben von gemeinsamen Freunden, Christine und Sergio hatten vereinbart, niemals Geheimnisse voreinander zu haben. Ihre Vergangenheit hatte sie gelehrt, dass Offenheit und Ehrlichkeit die beste Möglichkeit war, lange und glücklich zusammenzuleben. Besagte Vergangenheit hatten beide versucht zu verarbeiten und das hatte bisher fünf Jahre sehr gut funktioniert. Sie sprachen offen darüber, wer sie gewesen waren. Beide gingen regelmäßig zu den Treffen der Anonymen Alkoholiker und waren seit Jahren clean. Christine besuchte einmal im Monat eine Therapeutin.

Diese Vergangenheit, die sie abzuschließen versuchten, schien heute aber wieder da zu sein. Sergio fischte aus der Post einen Umschlag heraus und als er diesen öffnete, entnahm er ihm etliche Zeitungsausschnitte. Alle zeigten den Fall des »Ketten-Killers«, dessen Urteil nun endlich gesprochen worden war. Sechs Jahre nach der Anklageerhebung. Das Urteil lautete unter anderem auf Erpressung, Zuhälterei, Drogenhandel, Bestechung und Mord. Dieser Mann hatte lebenslänglich verdient. Der ganze korrupte Haufen nebst Handlangern war ebenfalls verurteilt worden. Sergio und ihre Freundin Ursula hatten beide gegen diesen Mann ausgesagt. Christine selber hatte sehr lange im Krankenhaus gelegen und sich danach geweigert, in die Öffentlichkeit zu treten. Das war aber auch gar nicht nötig gewesen. Die Staatsanwaltschaft hatte viele eindrucksvolle Bilder ihres Aussehens von damals gemacht, die im Gerichtssaal für Aufsehen gesorgt hatten, wie Sergio ihr hinterher berichtet hatte. Die Fotos in der Presse hatte sie bis dahin nie sehen wollen. Doch es war fast unmöglich gewesen, sie zu ignorieren. Die Zeitungen waren voll davon gewesen. Und jetzt warf sie einen Blick auf die neueste Ausgabe. Natürlich kamen bei der Betrachtung der Bilder der nun erfolgten finalen Urteilsverkündung alle verdrängten Erlebnisse wieder hoch. Christine war blass geworden. Sie erinnerte sich nur allzu gut, wie alles geendet hatte.

Sergio hatte schon ihre Blässe bemerkt, stand auf, umrundete den Tisch und nahm sie in den Arm.

»Woher kam dieser Umschlag?«, fragte Christine besorgt.

»Hier steht als Absender Ursula Valesca aus Deutschland.«

Christine überlegte, dann nickte sie. Richtig, ihre Freundin musste geheiratet haben. Jetzt entnahm Sergio dem Umschlag noch eine Heiratsanzeige, zwei Visitenkarten, verschiedene Fotos und einen Brief von Ursula. Christine war erleichtert, dass sie die Absenderin des Umschlages kannte, und immer noch besorgt, dass irgendetwas sie zu sehr mitnehmen würde. Sie war sich nicht sicher, ob ihre Psyche schon stark genug für eine erneute Konfrontation war.

»Was schreibt sie denn?«

»Sie schreibt, dass sie dich gerne zu ihrer Hochzeit eingeladen hätte, wenn sie deine Adresse gehabt hätte. Sie sagt, als sie nun erneut bei der Schlussverhandlung ausgesagt hat, habe sie sehr oft an dich gedacht. Sie fügt noch an, dass sie dich sehr vermisst und gerne wiedersehen möchte.«

Christine bat um das Schreiben und Sergio reichte ihr den Brief. Dieser hatte in einem grauen Umschlag gesteckt. Die Post war an sie weitergeleitet worden. Ihre Freundin Ursula hatte eine ganze Menge geschrieben: Sie besaß nun einen kleinen Friseursalon in Norddeutschland. Auf einigen beiliegenden Fotos sah sie bedeutend besser als früher aus. Eine deutlich gesetztere schlanke Blondine schaute fröhlich in die Kamera. Nur eines hatte sich nicht geändert: Sie war stets von Menschen umringt.

»Ursula scheint sich ja wirklich nicht zu verstecken«, meinte Christine, die nun nach einem Brötchen griff.

»Und sie hat sogar mit einer Reporterin gesprochen«, ergänzte Sergio und setzte sich wieder. Er reichte ihr eine Visitenkarte mit dem Namen und der Nummer einer Frau weiter, die für eine bekannte Zeitschrift arbeitete. »Hier steht: ›Ruf die mal an!‹«

Christine runzelte die Stirn. »Das werde ich wohl eher nicht tun.«

Doch nachdenklich hatte sie der Hinweis schon gemacht. Es war noch gar nicht so lange her, dass ihre Therapeutin ihr geraten hatte, einfach mal ihre Geschichte aufzuschreiben. In der anfänglichen Zeit wollte sie nicht – doch heute schien ihr die Idee interessant. Und je mehr sie darüber nachdachte, desto plausibler wurde es. Christine rieb sich über die Schläfe, gerade so, als habe sie Kopfschmerzen.

»Um zwölf Uhr kommt der Babysitter«, unterbrach Sergio ihren Gedankengang.

Sie frühstückten zu Ende und redeten dabei eher über Belanglosigkeiten. Als sie fertig waren, räumten sie gemeinsam ab und das Geschirr in den Geschirrspüler. Wie immer kam der Babysitter pünktlich.

Sergio und sie bestiegen seinen kleinen roten Peugeot 205 und fuhren durch die Camargue. Beide liebten sie Salzseen, die vielen Flamingos, aber vor allem die Weite und das Licht dieser Landschaft, welches sich je nach Tageszeit ständig veränderte. Von Zeit zu Zeit tauchten die Salzseen und der Sonnenstand die Umgebung in unglaubliche Pastelltöne, welche sich sogar auf die Wolken auszudehnen schienen. Nach einer gemütlichen Spazierfahrt fuhren sie in das neu erbaute Odysseum-Einkaufscenter von Montpellier, welches mit mehreren Etagen und unzähligen Shops zum Einkaufen einlud.

Einige Stunden später schleppte Sergio geduldig ihre Tüten mit den gemeinsamen Einkäufen, während langsam die Abenddämmerung einsetzte. In einem kleinen Café tranken sie eine eisgekühlte Limonade. Dieser 10. Juli war ein schöner Sommertag. Es war heiß und windig. Und dementsprechend konnte man hier bis in den späten Abend hinein draußen verweilen. Eng umschlungen saßen sie gemütlich auf einer bequemen Bank und genossen den Sonnenuntergang. Vor ihnen lagen die Stufen zur »Futtermeile«, wo die verschiedensten Restaurants zu bestaunen waren.

„Sobald es kühler ist, gehen wir dort hinunter. Ich habe für zwanzig Uhr einen Tisch in einem typisch französischen Restaurant gebucht.« Sergio nahm Christine in den Arm, die sich wiederum an ihn schmiegte. »Gerne so ein herrliches Drei-Gänge-Menü«, freute sich Christine begeistert.

Satt und zufrieden kehrten beide gegen dreiundzwanzig Uhr wieder nach Hause zurück. Sie wussten schon, dass sie den Rest des Abends durch das Wohnzimmer vögeln und es später im Bett noch einmal tun würden.

Als sie die Treppe zu ihrer Wohnung hochgingen, sagte Sergio: »Wir haben es wirklich gut hier.«

Christine nickte. Sie wusste, was er damit sagen wollte. Es war ein schöner Tag gewesen. Und es war nicht nur die Wohnung. Diese befand sich gerade einmal eine halbe Stunde vom Meer entfernt. Was ihr Heim betraf, war es hier sehr gemütlich. Die Wohnung lag außerhalb des Küstenortes Le Grau du Roi in einem ruhigen Wohngebiet und in einem Zweifamilienhaus. Sie bewohnten das Obergeschoß. Die Treppe hinauf durch die Eingangstür und einen kurzen Flur kam man direkt in die Küche. Daran schloss sich ein schönes Wohnzimmer an. Der Blick ging hinaus auf weite Felder und Wiesen, durchsetzt mit kleinen Seen. Drei Zimmer hatte die Wohnung. Eines war ihr Schlafzimmer, ein anderes das Kinderzimmer. Links vom Flur ging eine steile Stiege auf den Dachboden. Diesen planten sie, einmal als Kinderzimmer auszubauen. Dann sollte das jetzige Kinderzimmer ein Büro werden, welches sie beide würden nutzen können. Aber es waren nicht nur die schöne Wohnung, ihre kleine Familie und die faszinierende Umgebung, die Sergio gemeint hatte.

Beide hatten vor gut fünf Jahren komplett neu anfangen müssen. Sie waren mit fast nichts nach Frankreich gegangen. Einerseits natürlich, weil Christine in Europa bleiben wollte. Andererseits aber auch, weil sie hier niemand kannte und niemand suchen würde. Dafür, dass sie sich in einem Zeugenschutzprogramm befanden, hatten sie wirklich ein schönes Leben.

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Textprobe: Stefanie Willers
© 2020 Literaturprojekte gUG